»Reichskristallnacht«
Die Bezeichnung
R., deren Herkunft nicht definitiv geklärt ist, bildete und erhielt sich für
den reichsweiten Pogrom gegen
die Juden im Dt. Reich, der am 9./10.11.1938
stattfand. Er wurde am Abend des alljährlichen Treffens der NSDAP-Führerschaft
nach Zustimmung Hitlers von Minister Goebbels durch eine Hetzrede ausgelöst. Anschließend
gaben die SA-Führer von München aus telefonisch entsprechende Befehle an ihre
Stäbe und Mannschaften durch. Die offizielle Propaganda suchte (vergeblich) den Pogrom als
spontane Antwort der Bevölkerung auf den Tod des dt. Diplomaten Ernst vom Rath
auszugeben. Der Legationssekretär an der dt. Botschaft in Paris war von einem
gegen die Verfolgung der Juden und seiner aus Deutschland vertriebenen
Verwandten protestierenden 17jährigen Juden namens Herschel Grünspan
niedergeschossen worden. In einem barbarischen Terrorakt setzten SA- und
NSDAP-Mitglieder die Synagogen in Brand, deren Trümmer später z.T. gesprengt
wurden. Sie zerstörten etwa 7000 Geschäfte jüdischer Einzelhändler und
verwüsteten Wohnungen der Juden. Sie töteten nach offiziellen Angaben insgesamt 91 Personen.
Die Zahl derer, die infolge von Leid und Schrecken umkamen, ist nicht bekannt.
An den Aktionen beteiligten sich auch Angehörige der HJ und weiterer NS-Organisationen.
Der Mob nutzte
die Chance zur Plünderung. SS und Gestapo organisierten die
Verschleppung einer nicht exakt festgestellten Zahl jüdischer Männer und
Jugendlicher (etwa
26000) in die KZ Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen. Viele von ihnen
kamen dort infolge von körperlichen und psychischen Schikanen, von
Medikamentenentzug u.a. um. Anderen wurde der Verzicht auf Eigentum
abgezwungen. Die Masse der Inhaftierten kam erst nach Auswanderungserklärungen
frei. Die R. bezeichnet den Übergang zur forcierten Vertreibung der Juden ins
Ausland und den Beginn der mit Enteignung identischen abschließenden Phase
der Arisierung. Deutschland sollte
»judenfrei« werden. Die Koordinierung aller Maßnahmen lag in den Händen von
Göring und erfolgte nach einer Besprechung am 12.11.1938 im Gebäude des
Reichsluftfahrtministeriums in Berlin unter Beteiligung von Goebbels, Heydrich
sowie einigen Ministern und Vertretern der Wirtschaft (Versicherungen). Es
ergingen Verordnungen und Erlasse über die »Sühneleistung« der Juden in Höhe
von 1 Mrd. RM, über die Ausschaltung der Juden aus dem dt. Wirtschaftsleben,
die Schließung aller jüdischen Geschäfts- und Handwerksbetriebe, das Verbot des
Besuchs von Theatern, Konzerten und Kinos, den Ausschluß der jüdischen Kinder von
öffentlichen Schulen und der jüdischen Studenten von Hochschulen, die
Einschränkung der öffentlichen Fürsorge, des Wohnrechts und der
Bewegungsfreiheit, den Einzug der Führerscheine, den Zwangsverkauf jüdischen
Eigentums an Grundstücken, Gebäuden, Geschäften und Produktionsmitteln sowie
die Beschränkung der Verfügungsrechte über Wertpapiere, Kunst- und weitere
Wertgegenstände, Berufsverbote für jüdische Hebammen, Zahn- und Tierärzte u.a.
Heilberufe (sämtl. zwischen 12.11.1938 und 17.1.1939). Schließlich erteilte
Göring Heydrich den Auftrag, die »Judenfrage« durch »Auswanderung oder
Evakuierung« zu lösen (24.1.1939). Die Mehrheit der dt. Bevölkerung verhielt
sich gegenüber den Aktionen der R. distanziert. Der Pogrom erzeugte im Ausland
weltweit Proteste von Organisationen und Einzelpersonen, die wirkungslos
blieben, trug aber zum Ende der brit. Appeasement-Politik bei.
Kurt Pätzold
Literatur:
Graml, Hermann:
Reichskristallnacht. Antisemitismus und Judenverfolgung im Dritten Reich,
München 1988.
Pätzold, Kurt/Irene
Runge: Pogromnacht 1938, Berlin (Ost) 1988.
Pehle, Walter H.
(Hg.): Der Judenpogrom 1938. Von der »Reichskristallnacht« zum Völkermord,
Frankfurt am Main 1988.
[Teil II: Lexikon: »Reichskristallnacht«. Enzyklopädie des Nationalsozialismus, S. 2347 (vgl. EdNS, S. 679 ff.) (c) Verlag Klett-Cotta]