Warschau (Ghetto) Die poln. Hauptstadt W. hatte
ca. 1,3 Mio. Einwohner (1935), davon rd. 350000
Juden; ab 16.10.1939 war W. Distrikthauptstadt innerhalb
des von Hans Frank (Dienstsitz Krakau) verwalteten Generalgouvernements. Wie in den anderen
poln. Städten mit hohem jüdischen Bevölkerungsanteil begann in W. mit dem dt.
Einmarsch am 29.9.1939 ( Polenfeldzug) ein
schrittweiser Prozeß der Entrechtung und Ausbeutung. Dabei wurde an die
ab 1933 im Reich praktizierte nat.soz. Judenpolitik angeknüpft ( Nürnberger
Gesetze), deren Zielsetzung und Methodik aber wesentlich verschärft. Nach einer
Anfangsphase unkoordinierter Maßnahmen (Heranziehung zu Zwangsarbeit, Requirierung jüdischen
Vermögens, Verhaftungen und Erschießungen einzelner) wurde bereits im Herbst
1939 die Basis für die spätere Ghettoisierung geschaffen, indem die
Besatzungsbehörden Judenräte ernannten - in W. am 4.10.1939 unter Leitung
von Adam Czerniakow -, die die Umsetzung dt.
Befehle persönlich zu verantworten hatten. Je vollständiger die dt.
Verwaltungsplaner Juden aus der Restgesellschaft verdrängten, um so
konsequenter schien ihnen auch die geographische
Absonderung. Bald darauf wurde das mittelalterliche Konzept des Ghettos wiederbelebt, als man die jüdischen Wohnbezirke abriegelte: am 30.4.1940 zuerst
in Lodz, am 15.11.1940 in W.
Das Ghetto in W.
war, wie in allen anderen poln. Städten, so konzipiert, daß es einem Maximum an Juden auf einem Minimum an Fläche
(bevorzugterweise in bereits desolaten Stadtteilen) weniger als das
Lebensnotwendigste bot: 500000 Menschen fanden sich auf 73 Straßenzüge
zusammengedrängt, durch meterhohe Ghettomauern
von der Außenwelt nahezu total abgeschottet und
auf eine Tagesration von weniger als 200 Kalorien
reduziert, die auch ohne die gleichzeitige Ausbeutung durch Arbeit den sicheren Tod bedeutete. Die von der dt.
Ghettoverwaltung (Alexander Palfinger, Max Bischof, Heinz Auerswald) betriebene
systematische Unterversorgung zwang den Judenrat
zur ständigen Suche nach zusätzlichen Geld- und Nahrungsmittelquellen, um die dramatisch steigende Todesrate einzudämmen. Der
absurde Charakter der Ghettonormalität äußerte sich in
einem Klima permanenter Unsicherheit, das
»illegale« religiöse, politische und kulturelle Aktivitäten zahlreicher
Gruppen ebenso hervorlockte wie es Bereicherung und Kollaboration auf seiten einer kleinen
Minderheit förderte. Hatten sich direkte Interventionen der Deutschen innerhalb
des Ghettos bis dahin im wesentlichen auf Einzelaktionen beschränkt, so begann am 22.7.1942
der systematische Mord an den W. Juden im Rahmen
der Aktion Reinhardt ( Endlösung).
In drei Phasen deportierte die SS unter Hermann Höfle in Zusammenarbeit mit der
dt. Polizei und Ghettopolizei bis zum September 1942 etwa 250000 Juden in die
Gaskammern des
Vernichtungslagers Treblinka
( Deportationen;
Rassenpolitik und Völkermord). Die Annahme des Judenrats, die Deutschen
würden das Ghetto aus ökonomischen Gründen erhalten, erwies sich als falsch; Czerniakow nahm sich am 23.7.1942 das Leben.
Angesichts des
Chaos im Ghetto formierte sich die »Jüdische Kampforganisation« unter
Mordechai Anielewicz, die erstmals im Januar 1943 zum bewaffneten
Widerstand überging und den Boden bereitete für den W. Ghettoaufstand anläßlich der am 19.4.1943 beginnenden Deportation der
verbliebenen knapp 60000 Juden. Wenngleich Waffen, Munition und
nachhaltige Unterstützung von seiten des poln. Untergrunds fehlten, leisteten die Ghettokämpfer bis Mitte Mai
erbitterten Widerstand gegen die Übermacht dt. Einheiten unter dem Kommando
von Jürgen Stroop. Sie bezeugten damit die Stärke des jüdischen
Überlebenswillens, der sich auch in anderen Widerstandshandlungen wie in dem
von dem Historiker Emanuel Ringelblum geleiteten geheimen Ghettoarchiv in W.
manifestierte. Stroops Bericht vom 16.5.1943
über die erfolgte Liquidierung des »jüdischen Wohnbezirks« markierte das Ende
einer im Herbst 1939 eingeleiteten Entwicklung ( Stroop- Bericht). Am 11.6.1943 gab Himmler den Befehl, in W. ein KZ
zu errichten und das zerstörte Ghetto in einen Park zu verwandeln. Von den
knapp 500000 Juden im W. Ghetto erlebten nur einige tausend das Kriegsende.
Jürgen Matthäus
Literatur:
Im Warschauer Ghetto. Das Tagebuch des Adam Czerniakow 1939-1942, München
1986.
Scheffler, Wolfgang/Helge Grabitz: Der Ghetto-Aufstand Warschau 1943,
München 1993.
[Teil II: Lexikon: Warschau (Ghetto). Enzyklopädie des Nationalsozialismus,
S. 2839 (vgl. EdNS, S. 795 ff.) (c)
Verlag Klett-Cotta]